Werden Spitzensportler geboren oder gemacht?

Werden Spitzensportler geboren oder gemacht?





[zusammengefasst und kommentiert von Günter Steppich]


Zur Bedeutung des Anlage-Umwelt-Problems für den Sport



  • Der Kontroverse zwischen Anlage und Umwelt kommt im Kontext insbesondere spitzensportlicher Höchstleistungen besondere Bedeutung zu
  • So erfordern sportive Höchstleistungen für deren Entwicklung nicht nur optimale Umwelt- und Trainingsbedingungen sondern auch stets spezifische Anlagen, verstanden als genetisch bedingte Hochbegabung i.S. von Anomalien

Ein spitzensportliches Talent ist eine Person (in der Regel ein Kind oder ein Jugendlicher) zu verstehen, die aufgrund anatomischer, physiologischer und psychologischer Merkmale mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt, dass bei optimalen Trainings- und Umweltbedingungen sportliche Spitzenleistungen erbracht werden können (DAUGS 1987)



  • Nach ZACIORSKIJ / BULGAKOWA / RAGIMOW / SERGIOJONKO (1974) beträgt die Wahrscheinlichkeit, eine Person zu finden, die gleichzeitig zu dem jeweils einen Prozent der Größten, Kräftigsten und Schnellsten ihres Alters und Geschlechts gehört, 10-6 und somit 1:1.000.000.
  • Ein weiteres Problem besteht in der Verkennung von Talenten aufgrund eines zeitweiligen Entwicklungsrückstandes, einer Retardation, aber auch in der Auswahl von „Scheintalenten“ aufgrund eines zeitweiligen Entwicklungsvorsprungs, einer Akzeleration oder eines gewissen Trainingsvorsprungs
  • Sportliche Auffälligkeiten sind nicht selten auf eine Diskrepanz zwischen kalendarischem und biologischem Alter zurückzuführen, da nicht selten insbesondere im juvenilen Entwicklungsalter („Pubeszenz“) das biologische Alter dem kalendarischem Alter um bis zu drei Jahren vorauseilen kann
  • Kalendarisch Dreizehnjährige können somit biologisch durchaus sechzehn, oftmals aber auch erst zehn Jahre alt sein





Abb. 1: Das biologische Alter von Schülern (gestrichelte Säule) und Schülerinnen (durchgezogene Säule) mit einem durchschnittlichen Alter von 12,9 Jahren. Die Objektivierung des Altersbefundes erfolgte über Röntgenaufnahmen der Handwurzelknochen (WEINECK nach Daten von KEMPER / VERSCHUUR 1981, 97)



  • Die Prognose der Leistungsentwicklung steht im Zentrum der Bemühungen im eine Talentbestimmung im Sport
  • Grundlage ist die Annahme entwicklungsstabiler bzw. genetisch bedingter Leistungsmerkmale

Kann man anhand der Ausprägung eines Leistungsmerkmals im Kindesalter („juvenile Größe“) die Ausprägung dieses Merkmals im Höchstleistungsalter („definitive Größe“) zuverlässig prognostizieren?







Abb. 2: Koorelationskoeffizient zwischen juvenilen und definitiven Werten (definitives Alter 19,5 Jahre) der Körperlänge bei Jungen (SHUTTLEWORTH 1939; zitiert nach ZACIORSKIJ et al. 1974, 249)


[Erläuterung: erst ab dem 17. Lebensjahr ist eine zuverlässige Vorhersage der endgültigen Körperlänge möglich! Zwischen dem 11. und dem 16. Lebensjahr ist die Prognose drastisch verschlechtert. Daher die Forderung, Spielernicht frühzeitig auf eine Position festzulegen]







Abb. 3: Puberaler Wachstumsschub in der Körperlänge (SHUTTLEWORTH 1939; zitiert nach EIBEN 1979, 194)


[Erläuterung: Bei Mädchen erfolgt der größte Wachstumsschub durchschnittlich im 12. Lebensjahr (8cm), bei Jungen im 14. Lebensjahr (9cm). Für die Praxis ist diese Aussage, wegen der oben erwähnten Spanne von +-3 Jahren zwischen biologischem ind kalendarischem Alter, wenig hilfreich]


Zur Erblichkeit (Heredität) sportlicher Leistungsfähigkeit


Merkmale sportlicher Leistungsfähigkeit



  • Konstitutionelle Faktoren wie Körperbau, Körpergewicht, Körperlänge
  • Konditionelle Faktoren wie Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer
  • Koordinative Faktoren wie Geschicklichkeit, Gewandtheit, motorische Lernfähigkeit
  • Taktische Fähigkeiten
  • Intellektuelle Fähigkeiten wie Spielintelligenz
  • Leistungspsychologische Fähigkeiten wie Stress- und Belastungsresistenz, Leistungsmotivation, psychische Aktivierung
  • Faktoren der sportlichen Leistungsfähigkeit treten in unterschiedlichen Gewichtungen sowie sportarten- bzw. disziplinspezifisch in Erscheinung
  • Die Anzeichen mehren sich, dass weder eine quantitative noch qualitative Veränderung des Konditionstrainings entscheidende Leistungssteigerungen bewirken könnte
  • Sportmotorische Technik, Taktik und die leistungspsychologischen Merkmale entscheiden zunehmend über Sieg und Niederlage

Zur Messbarkeit der Erblichkeit



  • Die Frage der Heredität leistungsbeeinflussender Faktoren ist hinsichtlich einzelner Bereiche sehr unterschiedlich bearbeitet
  • Befunde liegen insbesondere im Bereich der konstitutionellen und konditionellen Merkmale vor, weniger im Bereich der koordinativen und kaum noch im Bereich der taktischen oder leistungspsychologischen Merkmale
    [Also genau in den Bereichen, die für uns Basketballer
    extrem interessant sind]
  • Zentrale Ansätze sportwissenschaftlicher Forschung im Kontext einer Bestimmung genetischer Disposition auf die sportliche Leistungsfähigkeit sind 
    (1)
    Längsschnittstudien, (2) Familienstudien und (3) Zwillingsstudien

(1) Längsschnittstudien



  • Die Stabilität eines leistungsbestimmenden Merkmals korreliert positiv mit seiner genetischen Bedingtheit, d.h. je größer die Merkmalsstabilität desto größer die Merkmalserblichkeit
  • Längsschnittstudien verleiten zu einem Rückschluss auf die Erblichkeit
  • Problematisch erweist sich der Rückschluss von Korrelationen [Zusammenhängen] auf Kausalitäten [Ursachen]
  • Beispielsweise ist die Körpergröße als hochgradig hereditäres Merkmal sehr stabil – der Rückschluss, dass somit sehr stabile Merkmale auch hochgradig hereditär sind ist jedoch keinesfalls zwingend

(2) Familienstudien



  • Stammbaumstudien oder Untersuchungen über die Abhängigkeit der Ähnlichkeit bestimmter Merkmale zwischen Verwandten vom Grad der Verwandtschaft
  • Stammbaumstudien zeigen, dass fünfzig Prozent der Kinder hervorragender Sportler sich meist wieder durch besondere sportliche Leistungsfähigkeit auszeichnen, allerdings meist in anderen Sportarten als ihre Eltern (GEDDA 1960; GREBE 1962)
  • Solche Befunde lassen sich jedoch nicht nur durch Vererbung erklären, sondern auch durch die Umwelteinflüsse, da die Herkunftsfamilie eine wichtige Instanz für die Bewegungs- und Sportsozialisation darstellt


  • Familienforschung in Abhängigkeit vom Grad der Verwandtschaft berechnet sich durch die Formel 0,5n für Verwandten n-ten Grades, d.h. je größer die Ähnlichkeit eines Merkmals auf derselben Verwandtschaftsstufe ist und je mehr die Ähnlichkeit eines Merkmals positiv vom Verwandtschaftsgrad abhängt, um so stärker ist die Erblichkeit dieses Merkmals

(3) Zwillingsstudien



  • Hauptansatz sportwissenschaftlicher Forschung im Bereich der Talentproblematik
  • Ausgangspunkt sind monozygotische (eineiige Zwillinge mit 100 Prozent identischer Erbanlage) und dizygotische Zwillinge (zweieiige Zwillinge mit 50 Prozent identischer Erbanlage)
  • Verstärkt genetischer Einfluss liegt vor, wenn (1) Unterschiede eines Merkmals zwischen den eineiigen Zwillingspaaren kleiner sind als die der zweieiigen Zwillingspaare, oder (2) zwischen den Merkmalsausprägungen der eineiigen Zwillingspaare besteht ein größrer Zusammenhang („Intrapaar-Korrelation“) als bei den zweieiigen Zwillingspaaren oder (3) die Varianz des Merkmals bei eineiigen Zwillingspaaren ist kleiner als bei zweieiigen Zwillingspaaren
  • Schwierigkeiten in der Anwendung dieser Verfahren liegen (1) in der eindeutigen Bestimmung eineiiger Zwillingspaare, (2) zugrundeliegende Annahmen der annähernd gleichen Umwelt der Zwillingspaare („pränatale und postnatale Umwelthomogenität“) sowie (3) der Annahme einer rein additiven Verknüpfung von Anlage und Umwelt

Der Hereditätsindex gibt somit an, inwieweit Erblichkeit die Veränderung einer gegebenen organischen Eigenschaft beeinflusst in einer gegebenen Bevölkerung unter gemeinsamen Umwelteinflüssen zu einer gegebenen Zeit (KLISSOURAS 1973)



  • Einfluss von Trainingswirkung (Umwelt), Genotypus (Anlage) und Interaktionen (Anlage / Umwelt) lassen sich in ihrem Einfluss auf den Phänotypus bestimmen, wenn das rein additive Modell von Erblichkeit und Umwelt erweitert wird um die Wechselwirkung dieser Faktoren
  • Untersuchungsmethodisch bedeutet dies Studien, bei denen ein Partner eines eineiigen Zwillingspaares trainiert wird, während der andere untrainiert als Kontrolle dient

Zusammenfassung




  • Sportliche Spitzenleistungen des heutigen Standards erfordern sowohl bezüglich der notwendigen leistungsbestimmenden Merkmale als auch bezüglich deren Trainierbarkeit eine anormal große, genetisch bedingte Ausprägung [Was – wie oben erwähnt – nur auf den anthropometrischen und konditionellen Anteil der Leistung zutrifft!]



  • Die leistungsbestimmenden Merkmale Konstitution, Kondition und Koordination weisen einen komplementären Zusammenhang zwischen Anlage und Umwelt auf


 


Abb. 5: Komplementärer Zusammenhang von Anlage und Umwelt (Training) bezüglich Konstitution, Kondition und Koordination